Veranstaltungsbericht

Erfahrungsräume schaffen: Wie Digitalisierung Beziehungen fördern kann

Wie kommunizieren wir miteinander in einer digitalen Welt? Welche Möglichkeiten bieten digitale Tools, welche Risiken bergen sie für unser Miteinander? Im Rahmen des zweiten Dialogforums des Netzwerk Bildung Digital wurde darüber diskutiert, wie die Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden in der Digitalität gestaltet werden kann.

Klaus Lüber 12.08.2021

In einer Kita in Nürnberg steht ein dreijähriges Kind am Fenster und beobachtet ein Eichhörnchen. Es fixiert das Tier genau, bringt Daumen und Zeigefinger beider Hände leicht zusammen. Dann führt es die Linke behutsam nach unten, die Rechte nach oben – als wollte es hineinzoomen in ein digitales Bild. In einer anderen Ecke Deutschlands, wieder in einer Kindertagesstätte, fragt sich eine Gruppe von Kindern: Wie sehen eigentlich Kitas in Australien aus? Da organisieren die Erzieher:innen einen Zoom-Call. Und ein paar Tage später winken sich die Kleinen staunend zu und die Pädagog:innen tauschen sich interessiert aus – von einer Seite des Planeten zur anderen.

Die Eichhörnchen-Geschichte stammt von Sabine Süß, die sich als Leiterin der Initiative Freischwimmen21 um die pandemiebedingten Defizite von Kindern- und Jugendlichen sorgt, über den Zoom-Call nach Australien berichtete Laura Niemeier, als Referentin für Pädagogik und Qualitätsentwicklung bei Fröbel Bildung und Erziehung gGmbH um den sinnvollen Einsatz digitaler Medien in der frühkindlichen Bildung bemüht. Süß und Niemeier, beide als Expertinnen beim zweiten Dialogforum des Netzwerk Bildung Digital zu „Beziehungen in der Digitalität“ vertreten, setzen damit früh den Diskussionsrahmen für ein anspruchsvolles Thema: Wenn Digitalisierung Beziehungen gleichermaßen stören kann (den Bezug eines Kleinkindes zur realen Welt) und zu fördern vermag (Interaktion mit anderen Ländern und Kulturen), welche Bedingungen müssen herrschen, um das eine zu vermeiden und das andere zu ermöglichen?

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Interaktion mit der Wirklichkeit

Beziehung, darauf konnte man sich angesichts der erschreckenden Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen schnell einigen, ist etwas, das man grundsätzlich nie vollständig digital substituieren kann und sollte. Zur zwischenmenschlichen Beziehung gehört der zwischenmenschliche Kontakt in der realen Welt, zur Aneignung von Wissen und einem glücklichen, erfüllten Leben die Interaktion mit der Wirklichkeit. 480.000 Jugendliche zwischen 16 und 19 Jahren seien allein durch den ersten Corona-Lockdown zusätzlich von depressiven Symptomen betroffen, zitierte Willi Weisflog eine Analyse des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB). Weisflog, Vorstand des Vereins Kopfsachen e. V., richtete im Panel den Blick auf die Folgen der Pandemie für die mentale Gesundheit der jungen Generation und plädierte dafür, viel stärker als bisher die Perspektive von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen. Sabine Süß ergänzte: „Man hatte in den letzten Monaten Kinder und Jugendliche sehr stark als Schüler:innen wahrgenommen. Dabei sind das junge Menschen, die eine Vielfalt von Angeboten im Bereich des Persönlichkeitslernens benötigen.“

Andererseits war auch schnell klar: Bei diesen Angeboten können digitale Medien dennoch eine wichtige Rolle spielen. Man müsse sie eben nur richtig einsetzen. So wie der virtuelle Kita-Besuch in Australien die Erfahrungswelt sowohl der Kinder als auch der Erzieher bereichert, kann Digitalität der Beziehungsarbeit im Bildungskontext eine wichtige zusätzliche Dimension hinzufügen. „Digitale Tools bieten uns die Möglichkeit, vollkommen neue Erfahrungsräume zu schaffen“, so Laura Niemeier. Dabei allerdings immer unter der Voraussetzung, dass eine ausreichend sensomotorische Interaktion als Basis schon gegeben ist. „Unsere Kinder wachsen heutzutage nun einmal mit digitalen Medien auf. Und wir tragen die Verantwortung dafür, dass sie lernen, gut damit umzugehen.“

In Kontakt mit sich selbst bringen

Doch was genau ist damit gemeint? Wie ist es möglich, das Digitale im Analogen so einzusetzen, dass tatsächlich etwas Produktives, Neues entsteht, statt zu ersetzen oder zu verdrängen, was lebenswichtig für uns ist? Indem man erkennt, so eine Teilnehmerin, dass echte Beziehungsarbeit durch Digitalität nicht etwa ersetzt, sondern im Gegenteil intensiviert werden muss. „Ich erlebe junge Erwachsene, die sind virtuos im Umgang mit digitalen Medien. Die chatten mit der ganzen Welt, sind fachlich kompetent, souverän in allen möglichen Sprachen. Aber wenn es einmal an der Tür klingelt, bekommen sie Schweißausbrüche. Je digitaler wir werden, desto mehr reale Interaktionen, desto mehr Menschlichkeit benötigen wir. Sonst besteht die Gefahr, dass wir uns in der realen Welt fremd werden.“

Im gemeinsamen Austausch führte das schnell zum Bedürfnis, sich zunächst die Gelingensbedingungen realer Beziehungsarbeit zu vergegenwärtigen, bevor es daran gehen könne, diese im digitalen Raum weiterzudenken. Ziel müsse es sein, „die Menschen in einen guten Kontakt zu sich selbst zu bringen“, Selbstkompetenz zu erwerben und damit die Fähigkeit zu erlangen „auf veränderte Rahmenbedingungen flexibel reagieren zu können, ohne Abwehr und Angst.“ Dabei kamen unter anderem auch die sogenannten „Reckahner Reflexionen“ zur Sprache, ethische Leitlinien für pädagogische Beziehungen, die unter anderem vom Deutschen Institut für Menschenrechte und dem Deutschen Jugendinstitut erarbeitet wurden. Darin wird mit Blick auf die Lehrenden unter anderem empfohlen, Wertschätzung statt Diskriminierung zu praktizieren, gelingende Verhaltensweisen zu benennen statt Leistungen entwertend und entmutigend zu kommentieren, Interessen und eigene Impulse der Schüler:innen zu fördern statt herabsetzend oder ausgrenzend zu reagieren.

Junge Menschen beteiligen

Wenn gute pädagogische Beziehungen auf Einstellungen wie diesen beruhen, und vieles spricht dafür, dann gilt es diese auch in die Fläche zu tragen. Arbeiten müsse man deshalb vor allem an der Haltung der Verantwortlichen. Womit auch die Eltern gemeint sind, die, aus Sicht eines teilnehmenden Elternvertreters aus Berlin, im Augenblick oft noch eher als Bewahrer denn als Treiber von Innovationen auftreten. „Für viele ist es leider immer noch ganz normal, dass ein Lehrer zu seinen Schülern sagt: Ich erkläre das nicht nochmal, wir sind hier nicht im Kindergarten.“ Es müsse sich also etwas ändern, und zwar grundsätzlich, systemisch. Aber wie? Die wichtige, für das Thema Beziehungen in der Digitalität so grundlegende Frage, blieb im Dialogforum noch offen, war aber eine von drei Fragestellungen, mit denen sich die Teilnehmenden für die kommende Workshop-Phase des Monatsthemas verabredeten. Dabei sollen, ausgehend von der Zielgruppe der Lehrenden, zunächst weiter ausdifferenziert werden, welche Art und Qualität von Beziehungsarbeit wünschenswert und auch auf digitale Formate übertragbar wäre.

Genauso wichtig, wie die Lehrenden in ihrer Beziehungsfähigkeit zu fördern, fand die Gruppe, Kinder- und Jugendlichen stärker als Zielgruppe in den Blick zu nehmen. „Junge Menschen haben viel zu sagen, es fehlt an Plattformen, über die ihre Stimmen sichtbar werden können“, hieß es im Chat. Und: „Wir sprechen ja von Selbstbestimmung. Da sollten wir junge Menschen unbedingt einladen, mit uns diese Selbstbestimmung zu gestalten.“ Wie es gelingen kann, innovative Ansätze unter Beteiligung junger Menschen in die Breite zu tragen, auch das war eine Frage, der man im Rahmen eines Workshops weiter nachgehen wollte. Ein besonderer Fokus: die Auflösung des klassischen Verhältnisses von Lehrenden und Lernenden hin zu einer neuen Art der Wissensvermittlung auf Augenhöhe.

Beziehungspflege auf Distanz

Inwiefern digitale Tools tatsächlich auch für die Beziehungspflege auf Distanz eingesetzt werden können, wo Chancen aber auch Grenzen liegen, auch damit wollten sich die Teilnehmenden im Rahmens eines Workshops intensiver beschäftigen. Übrigens auch hier unter Beteiligung von Lernenden, bestenfalls aller Altersstufen. Um selbst Grundschüler:innen zu Wort kommen zu lassen, hatte man sich überlegt, Grundschullehrende als Vertreter:innen ihrer Kinder einzuladen und diese möglichst auch mit ihrer Stimme sprechen zu lassen. „Methodisch eine sehr interessante Idee“, hörte man aus der Gruppe. Um Ansätze aus dem Präsenzunterricht schnell und unkompliziert auf deren Anteil an Beziehungsarbeit hin zu analysieren und in ein Online-Setting übersetzen zu können, hatten man sich außerdem überlegt, einen Psychologen oder eine Psychologin als Workshopgast einzuladen. „Jemand, der den Kern einer Methode nicht erst kompliziert verstehen muss, sondern zum Beispiel sofort für sich klar hat: Wie kann man eine Gemeinschaft spüren mit digitalen Tools?“

Mensch im Zentrum der Bildungsreise

Schon im zweiten Dialogforum des auf insgesamt fünf Themenkomplexe angelegten Projektes zeigten sich erste gewinnbringende Netzwerkeffekte. Man habe sich schon hier und da privat unterhalten, hörte man vereinzelt, in den Diskussionen ging man noch gezielter aufeinander ein. „Die Digitalität bietet in ihrer ganzen Bandbreite eine Menge, aber jedes einzelne Tool, jede App, ist nur ein Teil des Werkzeugkastens, auf den man zurückgreifen kann“, brachte ein Post im Chat des Plenums die intensive inhaltliche Diskussion im Dialogforum zu einem vorläufigen Fazit. „Wichtig ist doch, dass wir uns nicht ausschließlich auf sie verlassen und den Menschen ins Zentrum der Bildungsreise stellen.“