Gastimpuls

Micha Pallesche

Micha Pallesche ist Schulleiter der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe, einer Schule mit mehrfach ausgezeichnetem medienbildnerischem Profil und erste Smart School in Baden-Württemberg. Nach seinem Studium an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe, an der er u. a. Medienpädagogik als Zusatzstudium absolvierte, war er lange Jahre neben seinem Lehrerberuf an das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg abgeordnet.


„Schule muss sich nach außen öffnen“

Gute Bildung in der digitalen Welt bedeutet in erster Linie veränderte kulturelle Praktiken. Natürlich braucht eine Schule eine digitale Infrastruktur, eine gute technische Ausstattung. Aber in erster Linie geht es darum, Lehr-Lern-Prozesse völlig neu zu denken. Das bedeutet eben nicht, statt des Overheadprojektors nun einfach den Visualizer oder statt der klassischen Kreidetafel das Smartboard zu verwenden. Ziel muss es sein, den Notwendigkeiten Rechnung zu tragen, die unsere Gesellschaft mit sich bringt. Etwa in Form immer schneller ablaufender Veränderungsprozesse, einer immer höheren Komplexität und einer zunehmenden Ungewissheit. All das kann nur in einer gemeinschaftlichen Anstrengung angegangen werden. Und genau darauf müssen wir unsere Schüler:innen vorbereiten. Zum Beispiel, indem wir sie darauf vorbereiten, gemeinschaftlich an realen Problemstellungen zu arbeiten.

Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet dies, sich ein Stück weit wegzubewegen von Settings, in denen es ausschließlich darum geht, Wissen zu vermitteln, zu Lernsituationen, welche die Zusammenarbeit der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellen und die sie als Ansprechpersonen mehr begleiten als leiten. Das heißt jedoch nicht, ganz auf instruktive Phasen zu verzichten. Diese sind nach wie vor unverzichtbar für einen guten Unterricht. Man sollte hier nicht vorschnell das Alte gegen das Neue tauschen, sondern eher nach Möglichkeiten suchen, das Beste aus beiden Welten miteinander zu vereinen.

Ganz zentral in diesem Prozess muss es sein, den Fokus auf reale Problemstellungen zu legen. Diese eine gesamtgesellschaftliche Relevanz besitzen, statt ausgedachte Situationen zu beschreiben, mit denen die wenigsten Schülerinnen und Schüler etwas anfangen können. Zum Beispiel, wenn in Mathematik von einem See voller Aale die Rede ist, dessen Zu- oder Abnahme man nach bestimmten Parametern berechnen soll. Wen interessiert das, außer die wenigen mit einem Interesse an Fischzucht? Und es geht um die Rolle von Schule: Statt eines geschlossenen Systems, in dem die Lehrkraft die Tür zum Klassenraum hinter sich schließt, um ihre jeweils eigene Vorstellung von Unterricht zu vertreten, muss sich die ganze Institution radikal nach außen öffnen.

Das heißt zum einen, die Lehrerinnen und Lehrer mit externem Fachwissen dabei zu unterstützen, ihren Unterricht weiterzuentwickeln. Denn was wir heute brauchen, hat es noch nicht in die Curricula der Universitäten geschafft. Was in den Prüfungen als guter Unterricht gilt, hat sich in den letzten 20 Jahren kaum geändert. Wir können neue Ansätze nur dann erfolgreich im System verankern, wenn wir die aktuelle Generation im Rahmen von Fortbildungen dazu befähigen.

Zum anderen muss das Öffnen nach außen ganz buchstäblich erfolgen, indem man nämlich die Schule als Ort anschlussfähig an das Quartier macht, das sie umgibt. Wir versuchen das mit unserem sogenannten „Wunderland“, einem ehemaligen Schülerhort, dessen Räume wir nach den Kompetenzen des 21. Jahrhunderts gestaltet haben, und die nicht nur unseren Schülern, sondern Menschen aus der Nachbarschaft für Projekte offenstehen. Im Wunderland gibt es einen Makerspace, einen Raum des kritischen Denkens, einen Ort für Achtsamkeit und einen Reading Space. 

Wichtig war es uns dabei auch, Lernen mobil werden zu lassen. Die Schülerinnen und Schüler haben auf dem ganzen Campus Wlan-Anbindung. An einzelnen Wänden sind Flächen in grüner Farbe angebracht, um es etwa Lerngruppen ganz schnell und unkompliziert zu ermöglichen, ein Erklärvideo zu produzieren. Mit solchen Formaten gehen wir übrigens einen deutlichen Schritt über Flipped Classroom Konzepte hinaus, indem wir das Medium Video nicht lediglich als instruktives Element einsetzen, sondern den Schülerinnen und Schülern durch eigenes Produzieren Selbstwirksamkeit erlebbar machen – in enger Anlehnung an das Konzept der Learners as Designers. 

Natürlich muss der beschriebene Wandel von allen Beteiligten auch gewollt werden. Hierzu bedarf es meiner Meinung nach einer spezifischen Haltung. Zum einen bedarf es einer grundsätzlichen Offenheit für Veränderung und dem Mut, Dinge ausprobieren zu wollen. Uns hat sehr geholfen, von Anfang an die Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt zu stellen. Zum Beispiel bei einer Lehrer:innenkonferenz, in der die Kinder und Jugendlichen im Rahmen des Fishbowl-Formats als Expert:innen im Zentrum Ideen zur Schule der Zukunft entwickelten. Ich finde: Wenn man das einmal erlebt hat, kann man gar nicht anders, als die Veränderung zu wollen. Solche Emotionen zu fördern und zuzulassen – auch das gehört für mich zu einer gesunden Haltung. Ebenso das Thema Partizipation. Man sollte allen Akteuren, Schüler:innen, Lehrer:innen, Eltern, Menschen im Quartier, ermöglichen, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Dass ein Schulleitungsteam sich Gedanken zu einer neuen Maßnahme macht und diese dann im Alleingang umsetzt – diese Zeiten sollten ein für alle Mal vorbei sein. Und zuletzt müssen wir denjenigen, die ihre Haltung tatsächlich verändern wollen, auch die Chance geben, dies zu tun. Bei manchen sind ein oder zwei Gelegenheiten ausreichend, andere benötigen vielleicht mehr Versuche. Wenn wir all dies berücksichtigen, kann es meiner Meinung nach auch gelingen, so viele Menschen wie möglich in diesem Prozess des Wandels mitzunehmen.