Veranstaltungsbericht
Institutionen entlang der Bildungskette stärken
Das zweite Dialogforum des Netzwerks Bildung Digital am 7. September ging der Frage nach, welche Freiräume und Rahmenbedingungen Akteure entlang der gesamten Bildungskette benötigen, um Bildung zeitgemäßer zu gestalten.
21.09.2022Es war ein produktiver Sommer für das Netzwerk Bildung Digital. Mit Unterstützung eines inzwischen großen Netzwerks wurden wichtige Leitlinien für gute digitale Bildung erarbeitet, die sich erstmals an Akteure entlang der gesamten Bildungskette richteten und speziell die Bildungsübergänge in den Fokus nahmen. „Es gibt immer noch viele Bildungsinstitutionen, die sich liebend gerne weiterentwickeln wollen, aber einfach nicht wissen, wie sie starten sollen“, so Jacob Chammon, Vorstand des Forum Bildung Digitalisierung zu Beginn des zweiten Dialogforums. „Man darf nicht vergessen, wie heterogen die deutsche Bildungslandschaft ist und wie unterschiedlich die spezifischen Anforderungen und Voraussetzung einzelner Akteure sind. Vielleicht denkt sich dann eine Berufsschule: Ist ja gut, dass wir inzwischen wissen, wie Unterrichtsentwicklung in Grundschulen gelingen kann. Aber bei uns ist die Lage eine ganz andere.“
Oder auch nicht. Denn bestätigt hat sich im Leitlinienprozess, an dem über 200 Institutionen teilnahmen, genau das Gegenteil: Ob Kita, Gymnasium oder berufliches Fortbildungsinstitut – gerade, wenn es darum geht, den Fokus auf die Herausforderungen eines lebenslangen Lernens zu richten, sind die grundsätzlichen Herausforderungen überall gleich. „Uns hat selbst sehr überrascht, wie ähnlich die Themen doch sind, die ganz unterschiedliche Akteure im Zuge der Digitalen Transformation gerade beschäftigen“, berichtete Chammon. Dazu gehört die Formulierung eines klaren Ziels (Leitlinie 1), eine offene Haltung (Leitlinie 2) und eine technische Grundausstattung (Leitlinie 3) genauso wie die Möglichkeit der Fortbildung und Beratung (Leitlinie 4) und der Austausch auch über institutionelle Grenzen hinweg (Leitlinie 5). „Ich erinnere mich an ein Institut aus Nordrhein-Westfalen, das sich im Bereich Jugendarbeit engagiert und zu uns sagten: Wow, uns war gar nicht bewusst, wie sehr wir hier doch an einem Strang ziehen“, so Chammon.
Lernen@DB
Der Blick über den Tellerrand hat noch einen anderen Vorteil: Er nimmt eine Akteursgruppe in den Fokus, die sich intensiv mit neuen Lernkonzepten beschäftigen, in der öffentlichen Wahrnehmung der Debatte um digitale Bildung bislang aber keine große Rolle spielten: die Unternehmen. In ihrem Impuls berichtete die Sozialwissenschaftlerin Ulrike Stodt, Expertin für Bildungsprogramme, Bildungspolitik und Mitarbeiterentwicklung bei der Deutschen Bahn AG, wie der Konzern viele der formulierten Leitlinien bereits erfolgreich im Bereich der Aus- und Weiterbildung implementiert. Das 2020 gestartete Projekt Lernen@DB bietet ein komplexes Lernökosystem, das den Anspruch hat, Lernen im Alltag der Mitarbeitenden zu verankern. Es definiert zunächst strategische Ziele sowie Anforderungen an interne Bildungsanbieter, formuliert Methoden und Inhalte, stellt mit Lernräumen und einer einheitlichen Lernplattform Infrastruktur und Ressourcen bereit und entwickelt datenbasierte Prozesse weiter, etwa mit der Einführung eines konzernweiten Planungs- und Dispositionstools. „Uns war es wichtig, das Thema Lernen wirklich ganzheitlich anzugehen und als permanenten, berufs- und lebensbegleitenden Prozess im Unternehmen zu verankern“, so Stodt.
Entscheidend für die Bildungsexpertin ist dabei die Etablierung einer neuen Lernkultur, die sie an drei Kernelementen festmacht: sogenannte Quick Wins, mit denen der eigentlich langwierige Prozess einer Haltungsänderung beschleunigt werden kann. Etwa über kleine digitale Lern-Nuggets, die Mitarbeitende einmal pro Woche absolvieren können. „Darüber erreichen wir insbesondere diejenigen, die bislang noch wenig mit digitalen Medien in Berührung gekommen sind“, berichtete Stodt. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei das Verhalten der Führungskräfte, die eine Vorbildfunktion übernehmen und darüber wichtige Impulse für einen Wandel geben können. „Wir sehen unsere Führungskräfte als Lernvorbilder, -gestalter und -unterstützer.“ Drittens sei es entscheidend, die Mitarbeitenden aktiv in diesen Changeprozess einzubinden, so Stodt. Bereits in der Ausbildung setzt der Konzern auf die Vermittlung von Schlüsselkompetenzen im Umgang mit Digitalisierung. Dazu zählt eine Vollausstattung der Bahn-Azubis mit digitalen Endgeräten, ein Ausbildungsmanagement-Tool, das bei administrativen Prozessen unterstützt, sowie entsprechend geschultes Personal. „Im Zentrum steht bei uns immer der Mensch, der im Lernen befähigt werden soll, den persönlichen und fachlichen Anforderungen gerecht zu werden.“
Kollaboration statt Kollabieren
Anders formuliert: Die Digitalisierung endet nicht mit der technischen Ausstattung. Worum es eigentlich geht, ist eine Veränderung des Lernens selbst: es muss problem- und handlungsorientierter werden. Digitale Tools können dabei unterstützen, aber sie sind immer nur Mittel zum Zweck. Diesen Punkt machte auch Marcel Hopp, Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, bildungspolitischer Sprecher der SPD und ehemaliger Lehrer an einer Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe in Berlin-Neukölln in der anschließenden Panel-Diskussion. „Wir fokussieren uns immer noch zu sehr auf Technik. Dabei geht es eigentlich um viel mehr: nämlich darum, Schule im Zuge eines gesamtgesellschaftlichen Aushandlungsprozesses radikal neu zu denken.“
So grundlegend und notwendig diese Einsicht ist, sie sollte nicht dazu führen, noch mehr Druck auf ein System auszuüben, das ohnehin an der Belastungsgrenze ist. Dafür plädierte Sigrid Beer, Bildungsexpertin B90/Die Grünen. Es gehe vielmehr darum, so Beer, Schulen Freiräume zu gewähren, ohne die zielorientierte Unterrichtsentwicklung nicht möglich ist. „Viele bereiten sich ja jetzt schon wieder auf einen Herbst und Winter unter Pandemiebedingungen vor. Das macht ein zu engagiertes Change-Programm zu einer Notfalloperation.“ Die Hauptherausforderung sieht sie nicht nur in einer großen Heterogenität im Bereich der technischen Ausstattung oder bezüglich der Bedarfe und Voraussetzungen der Schülerschaft. „Wir haben es auch bei Lehrerinnen und Lehrer mit sehr unterschiedlichen Lernausgangslagen zu tun. Auch hierfür müssen wir dringend Lösungen finden.“
Ein vielversprechender Ansatz wäre für Beer, das „gewaltige Know-how“ der Schülerschaft besser zu nutzen. „Es könnten noch viel mehr Produktionsgemeinschaften zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen stattfinden.“ Ähnliche Settings wären auch unter der Beteiligung der Eltern notwendig, die wertvolles externes Wissen in Lernsettings bringen könnten, die sich ohnehin viel stärker als bisher nach außen öffnen müssten. Gleichermaßen müsste man die Elternschaft auch in den Unterrichtsentwicklungsprozess einbinden. „Wir brauchen hier noch viel stärker einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Was nützt es Ihnen als Schulleitung, wenn Sie mehr Freiräume und Fortbildungsangebote für Lehrende einrichten, dafür notwendigerweise Unterricht ausfällt und ihnen die Eltern auf die Barrikaden gehen, weil sie der Meinung sind, nur im alten System würden ihre Kinder optimal auf das Abitur vorbereitet.“
Mehr Fokus auf Inklusion
Freiräume sind notwendig, ja, aber genauso wichtig sei es, diese in einen Rahmen einzubetten, der Handlungssicherheit gebe, betonte Klaus Weber, Arbeitsbereichsleiter Fachstelle für Übergänge, Grundsatzfragen am Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB). Webers Hauptaugenmerk gilt den Übergängen zwischen Ausbildung und Beruf. Entscheidend für ihn: immer die Bedarfe der Zielgruppe mitdenken. „Wenn wir einen neuen Ansatz entwickelt haben, holen wir uns immer direkt das Feedback von der Auszubildenden. Entsprechend gehen wir dann weiter in die Entwicklung. Es reicht nicht mehr aus, ein neues Tool zu entwickeln und der Lackmustest findet erst dann statt, wenn es schon längst im Einsatz ist.“
Heinz Grasmück, Direktor des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) in Hamburg plädierte dafür, in der Debatte um digital gestützte Unterrichtsentwicklung das Thema Inklusion wieder stärker in den Blick zu nehmen. „Wir müssen eine heterogene Schülerschaft dazu befähigen, eigene Lernwege zu gehen. Das sollte eine der Hauptziele digitaler Medien im Unterricht sein.“ Dieser Meinung war auch Sigrid Beer, die noch einmal deutlich machte: Digitalisierung wird immer noch zu sehr als Add-on wahrgenommen. Dabei ist das Ziel eigentlich ganz klar: Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Auf dem Weg dorthin ist für Beer vor allem entscheidend, sich von der Angst zu befreien, Fehler zu machen. „Wir brauchen eine deutlich höhere Fehlerfreundlichkeit im System. Es darf auch mal etwas schiefgehen.“ Das allerdings sei „nicht geübte Praxis“ und deshalb ein „großer Switch im Bildungssystem“.
Kulturelle Bildung als Schlüsselkompetenz
Welche konkreten Schritte sind notwendig, um das Bildungssystem in diesem Sinne weiterzuentwickeln? Für Heinz Grasmück spielt das Thema kulturelle Bildung eine wichtige Rolle. Disziplinen wie Film und Medienkunst hätten schon früh gezeigt, wie man mit digitalen Mitteln neue Wege gehen könne. Diesen Ansatz müsse man auch für die Unterrichtsentwicklung nutzbar machen. Grasmück selbst hat unter diesem Gesichtspunkt das „Haus des digitalen Lernens“ aufgebaut, eine Art Werkstattraum für digital unterstützten Unterricht, in dem Lehrerinnen und Lehrer innerhalb des institutionellen Rahmens des Landesinstituts die Möglichkeit haben, neue Unterrichtsmodelle in vielfältigen Szenarien zu erproben. „Unsere Aufgabe ist, Kreativität und kulturelle Bildung als unverzichtbare Kompetenzen im 21. Jahrhundert zu fördern.“
Obwohl das Haus des digitalen Lernens inzwischen auch über Hamburg hinaus bekannt ist und eine Vorbildfunktion übernimmt, stellt sich dennoch die Frage: Reichen solche Best Practices aus, um Institutionen die notwendigen Impulse zur Veränderung zu geben? Oder muss noch mehr geschehen auf der Ebene der Vernetzung? Heinz Grasmück zeigte sich zuversichtlich: „Die Landesinstitute der 16 Bundesländer sind inzwischen hervorragend vernetzt. Im Grunde führen wir bereits seit 2016, als die KMK ihr Strategiepapier zum Thema digitale Bildung veröffentlichte, eine intensive Debatte darüber, wie wir unser Portfolio erweitern können.“ Neue länderübergreifende Arbeitsverbünde seien entstanden. „Die vom Bundesforschungsministerium beschlossene Förderung von Kompetenzzentren für digitalen und digital gestützten Unterricht ist da ein Schritt in die richtige Richtung.“
Entlastung durch multiprofessionelle Teams
Freiräume schaffen, verlässliche Rahmenbedingungen etablieren, inklusive Bildung voranbringen – die Zielsetzung, so war zumindest unter den Referent:innen im Dialogforum spürbar, ist inzwischen sehr klar formuliert. Allerdings bleibt nach wie vor die Herausforderung, diese im Alltag und sehr konkret an der einzelnen Bildungsinstitution auch umzusetzen. Wie schaffen wir eine so tiefgreifende Veränderung, die ja eine Menge an Ressourcen benötigt, in einer Zeit, in der Schulen noch nicht einmal genug Lehrer:innen und Lehrer zur Verfügung haben?
Diese am Ende im Chat gestellte Frage dürfte gerade viele der rund 80 Teilnehmenden des Dialogforums umtreiben. Noch dazu, wenn klar ist, dass sich an dieser Situation auch mittelfristig nichts ändern wird, wie Marcel Hopp aus Berlin betonte. Sein Lösungsvorschlag: Entlastung durch mehr Teamarbeit. Berlin stelle, so Hopp, einen Millionenbetrag für die Förderung multiprofessioneller Teams bereit. Entlastung müsse es, da waren sich alle Podiumsgäste einig, auch im Bereich des technischen Supports geben. Die IT-Administration dürfe nicht an Lehrerinnen und Lehrern hängen bleiben. „An meiner ehemaligen Schule hat das ein Lehrer ehrenamtlich gemacht. Das geht so nicht mehr“, so Hopp.
Sich genau in den Kontext solcher konkreten Fragestellungen zu begeben und Lösungsvorschläge zu entwickeln ist auch das Ziel der sogenannten Experimentierräume des Netzwerk Bildung digital, was auch Jacob Chammon noch einmal betonte: „Wir haben unsere Leitlinien entwickelt, um mit der Politik ins Gespräch zu kommen und einen Rahmen zu bilden. Der nächste Schritt ist natürlich, dann auch wirklich ins Handeln zu kommen“, so Jacob Chammon. In insgesamt drei Blöcken zu je drei Terminen haben Institutionen entlang der gesamten Bildungskette die Möglichkeit, sich zu Themen wie Organisations- und Unterrichtsentwicklung auszutauschen und neue Projektideen zu entwickeln.
Weitere Informationen zu unserem Format Experimentierräume finden Sie hier.