Interview

„Es gibt weiteren Forschungsbedarf zur Digitalisierung in der Erwachsenen- und Weiterbildung“

Wir wissen immer noch zu wenig darüber, unter welchen Bedingungen die digitale Transformation im Bildungsbereich gelingt. Dies jedenfalls ist die Einschätzung von Angelika Gundermann und Jan Koschorreck vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE). Als Teilnehmende des zweiten Experimentierraums „Institutionen entlang der Bildungskette stärken“ des Netzwerk Bildung Digital tauschten sie sich dazu aus, welche Forschungsbedarfe auf Praxisseite konkret bestehen.

von Klaus Lüber mit Angelika Gundermann und Jan Koschorreck 28.02.2023

Angelika Gundermann und Jan Koschorreck sind am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE) in Bonn tätig. Hier arbeiten sie im Metavorhaben (Digitalisierung im Bildungsbereich (kurz: Digi-EBF), einem Projektverbund unter Federführung der Universität Duisburg-Essen, das BMBF-geförderte Forschungsvorhaben zur Digitalisierung in verschiedenen Bildungsbereichen begleitet. Ihre Aufgabe ist die Aufarbeitung des Forschungsstandes zu verschiedenen Facetten der Digitalisierung in der Erwachsenen- und Weiterbildung. Die Ergebnisse ihrer Arbeit werden in einer Sammelbandreihe veröffentlicht. Ein Fokus ist die Frage, wie sich die Ausbildung von Lehrkräften in diesem Bereich verändern müsste, um den durch die Digitalisierung entstehenden neuen Kompetenzanforderungen gerecht zu werden. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit ist der Blick auf Organisationen: Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Art und Weise, wie Organisationen gemanagt und geführt werden müssen? Eine ihrer Erkenntnisse: Jede Organisation benötigt eine Strategie, um sich erfolgreich durch den Transformationsprozess der Digitalisierung zu manövrieren. Welche Konzepte hier allerdings aus welchen Gründen Erfolg haben – dazu gibt es bislang noch kaum Forschung. Zudem beschäftigen sie sich intensiv mit der Frage, wie der Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis gelingen kann. Sie arbeiten zu diesem Zweck unter anderem eng mit dem Portal wb-web des DIE zusammen.

Sie forschen zur Digitalisierung in der Bildung und erarbeiten in diesem Zusammenhang sogenannte Critical Reviews. Worum geht es dabei?

Angelika Gundermann: Für jeden unserer Beiträge sichten wir rund 2.000 Paper, die per Datenbanksuche ermittelt werden. Wir beurteilen anhand von Titel und Abstract, ob die Studie einen wichtigen Beitrag zu unserem Thema enthalten könnte. Danach werten wir die passenden Beiträge systemisch aus und fassen die Ergebnisse in unserem Review zusammen. So entsteht ein Überblick zu den jeweils aktuellen Forschungsergebnissen.  

Jan Koschorreck: Unser Schwerpunkt liegt dabei auf der Sichtbarmachung von Forschungsbedarfen und vor allem auch auf der kritischen Diskussion und Einordnung der gesammelten Forschungsergebnisse mit Blick auf die Praxis der Erwachsenenbildung und Weiterbildung allgemein.

Man hört immer wieder, die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung für das Bildungssystem seien inzwischen sehr gut erforscht; jetzt müsse man nur noch ins Handeln kommen. Ist das auch Ihre Einschätzung?

Jan Koschorreck: Das ist zu einfach gedacht. Erstens gibt es noch etliche große Erkenntnislücken. Und auch wenn entsprechende Ergebnisse vorliegen, heißt das nicht, dass diese direkt umgesetzt werden können. Sie müssen zunächst in ihrer Bedeutung erkannt und dann immer im Kontext der jeweiligen Situation angewendet werden. Hier gibt es zahlreiche Unwägbarkeiten. Gerade in unserem Bereich sind Bildungsanbieter extrem unterschiedlich aufgestellt. In Weiterbildungseinrichtungen können bestehende oder fehlende soziale oder technische Strukturen zum Beispiel dazu führen, dass der Prozess der Digitalisierung stockt. 

Angelika Gundermann: Wir beschäftigen uns in der Abteilung Wissenstransfer am DIE tatsächlich genau mit dieser Fragestellung: Wie funktioniert der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis? Die Publikation von Studienergebnissen reicht hier nicht aus, so viel ist klar. Selbst wenn die Praktiker:innen wissenschaftliche Beiträge lesen, bedeutet dies nicht, dass sie die Ergebnisse umsetzen wollen oder können. Beim DIE arbeiten wir mit dialogisch ausgerichteten Transferangeboten, in denen Forschende und Praktiker:innen gemeinsam Herausforderungen für die Praxis und Ergebnisse aus der Forschung diskutieren und reflektieren. Ein Beispiel dafür ist unsere Veranstaltungsreihe „dialog digitalisierung“.

Zu welchen konkreten Fragestellungen besteht hier besonderer Bedarf?

Jan Koschorreck: Bisweilen fehlen sehr grundlegende Daten und Ergebnisse, beispielsweise zur Effektivität von digitalen Lernarrangements oder zur Frage, über welche digitalen und mediendidaktischen Kompetenzen Lehrkräfte in der Weiterbildung eigentlich verfügen. Wenn wir Weiterbildungseinrichtungen betrachten, mangelt es an Forschung dazu, welche Strategien zur Anwendung kommen, welche erfolgreich sind und wie diese umgesetzt werden. Auch zu neuen Geschäftsmodellen in diesem Bereich wissen wir wenig. 

Angelika Gundermann: Man darf nicht vergessen, dass es sich bei den Fragestellungen rund um die Digitalisierung oft um noch relativ junge Phänomene handelt. Die Forschung ist meiner Meinung nach auch deshalb noch lückenhaft.

Wie kann der Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis besser gelingen? Und wie sieht Ihr aktuelles Engagement in diesem Bereich aus?

Jan Koschorreck: Unserer Erfahrung nach braucht es für den Wissenstransfer zum einen Ressourcen, zum anderen die entsprechende Expertise. Damit ist ein hoher Aufwand verbunden, der gerne unterschätzt und deshalb in Forschungsprojekten immer noch nicht ausreichend eingeplant wird. In der Regel steht er weit hinter der eigentlichen Forschung und den wissenschaftlichen Publikationsaktivitäten zurück. Im Zusammenhang mit Digitalisierungsfragen kommt dann noch eine große Dynamik der technischen Entwicklung hinzu, wie wir am Beispiel ChatGPT aktuell sehen können. Im Rahmen des Metavorhabens unterstützen wir den Wissenstransfer zum einen durch Dialogveranstaltungen. Dort haben Forschende und Praktiker:innen die Möglichkeit, sich auf Augenhöhe zu aktuellen Themen auszutauschen. Zum anderen versuchen wir dies auch über die bestehenden Kanäle der Projektpartner zu realisieren.

Angelika Gundermann: Seitens des DIE verfügen wir mit dem Portal wb-web.de über ein reichweitenstarkes Medium in die Praxis. Wissenstransfer betreiben wir in Form verschiedener Formate wie etwa Podcasts, Blogbeiträge und im Rahmen von „Forschung Quergelesen“: einer Art kompaktes, verständliches „Reader’s Digest“ einzelner Forschungsarbeiten. Und natürlich nutzen wir auch Veranstaltungen wie den Experimentierraum.

Mit welcher konkreten Fragestellung sind Sie in den Experimentierraum des Netzwerk Bildung Digital gegangen?

Angelika Gundermann: Die Teilnahme am Experimentierraum geschah auch aufgrund unseres spezifisch auf Transfer ausgerichteten Engagements. Wir wollten mit Vertreter:innen aus den anderen Bildungsbereichen in den Austausch kommen.

Jan Koschorreck: Uns ging es vor allem darum, unsere Ergebnisse zur Bedeutung der Digitalisierung für Weiterbildungseinrichtungen zur Diskussion zu stellen. Unsere Frage war, welche unserer Erkenntnisse sich mit dem Wissen und den Erfahrungen der anderen Teilnehmenden decken und welche davon abweichen.

Wie konnten Sie vom Austausch im Netzwerk Bildung Digital profitieren? 

Angelika Gundermann: Es war gewinnbringend, einen Blick über den Rand des eigenen Bildungsbereichs zu werfen und zu hören, welche Themen die Kolleg:innen bewegen. Wir konnten feststellen, dass es in der Erwachsenenbildung im Grunde um ganz ähnliche Fragestellungen geht wie in den anderen Bildungsbereichen. Das war eine gute Bestätigung der eigenen Arbeit. Zugleich zeigte sich, dass es in fast allen Feldern offene Fragen gibt, denen sich die Bildungsforschung widmen muss. Es war gut, im Kreis der Teilnehmenden zu erfahren, dass wissenschaftliche Erkenntnisse außerhalb der wissenschaftlichen Community aufgenommen werden. 

Jan Koschorreck: Wir konnten interessante Kontakte knüpfen und es war spannend zu sehen, dass sich etliche Herausforderungen, wie etwa Fragen der Finanzierung oder der Mitarbeiterqualifizierung, nicht nur mit unserem Bildungsbereich decken, sondern immer noch aktuell sind. Gleichzeitig konnten wir feststellen, dass die Frage nach erfolgreichen Digitalisierungsstrategien auch in den anderen Bereichen noch nicht beantwortet ist und deshalb weiter beforscht werden sollte.

Vielen Dank für das Interview!

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ZUR PERSON

Angelika Gundermann hat lange Jahre als Autorin und Redakteurin gearbeitet, bevor sie über die Tätigkeit als Dozentin zur Erwachsenenbildung kam. Seit 2014 beschäftigt sie sich am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung mit Wissenstransfer und der Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Zielgruppe der Praktiker:innen. Themenschwerpunkt sind dabei digitale Medien und ihr Einsatz in der Erwachsenenbildung. 

Jan Koschorreck arbeitete mehrere Jahre in der Aus- und Fortbildung pädagogischer Fachkräfte. Er ist derzeit am Deutschen Institut für Erwachsenenbildung im Wissenstransfer tätig. Schwerpunkte seiner Arbeit liegen unter anderem in den Bereichen Medienpädagogik und Digitalisierung in der Erwachsenen- und Weiterbildung.