Interview

„Gute Schulentwicklung braucht Zeit, Geld und kluge Köpfe“

Viele Schulen haben sich schon vor Jahren auf den Weg der digitalen Transformation gemacht. Sie verfügen über eine vernünftige digitale Ausstattung, ein digitales Mindset und digital-kompetente Lehrkräfte. Wie geht es für eine Schule weiter, wenn sie schon ein großes Teilstück des Weges bewältigt hat? Welche Personengruppen sollte sie noch intensiver beteiligen und welche außer-schulischen Kooperationspartner einbinden, um die Kultur der Digitalität langfristig zu implementieren? Zu diesem Thema suchte Nicole Bordelais, stellvertretende Schulleiterin der internationalen Deutschen Schule Brüssel (iDSB), den Austausch im dritten Experimentierraum „Rahmenbedingungen entlang der Bildungskette neu denken“.

von Anja Reiter mit Nicole Bordelais 28.02.2023

Transparenz, Zusammenarbeit, Differenzierung und datengestützte Entscheidungen – das sind die vier Grundsäulen, auf denen die Vision der internationalen Deutschen Schule Brüssel ruht. Die stellvertretende Schulleiterin Nicole Bordelais ist sich sicher, dass bei all diesen vier Aspekten der Aufbau einer Kultur der Digitalität weiterhelfen könne. Ihre Beispiele, inwiefern Transformationsprozesse an ihrer Schule von der Kultur der Digitalität profitieren, sind vielfältig: Schon seit Längerem partizipieren Lehrkräfte an der internationalen Deutschen Schule Brüssel durch regelmäßiges, digitales Feedback am Schulentwicklungsprozess, Notenkriterien werden in einem schulinternen, digitalen Kommunikationssystem für Eltern und Schüler*innen transparent kommuniziert. Doch Nicole Bordelais möchte an dieser Stelle nicht haltmachen, sondern die Kultur ihrer Schule weiterentwickeln.

Frau Bordelais, Ihre Schule hat sich bereits auf den Weg gemacht, sich im Hinblick auf die Kultur der Digitalität zu transformieren. Wie sind Sie bei der Definition der vier über-curricularen Ziele im Rahmen der Visionsbildung vorgegangen?

 Die Ziele entstammen im weitesten Sinne dem Buch „Reinventing Organizations“ von Frederic Laloux, das sich mit der Organisationsentwicklung in Unternehmen auseinandersetzt. Ein kanadischer Kollege hat daraus ein Modell für die Transformation von Schulen entwickelt. Mehr dazu erfährt man auf dem Twitter-Kanal „Reinventing Education“ oder in diesem Podcast. Als Schulleitung fanden wir das Modell so überzeugend, dass wir es als Vision für unsere Schule nutzen wollten. Folgt man dem Modell, verständigt man sich zunächst darüber, was gute Bildung überhaupt ausmacht – und ob man sich in eine traditionelle, eine Mainstream- oder in eine progressive Richtung bewegt. Keine dieser drei Arten von Schule ist von Natur aus besser als die andere, jeder Ansatz kann im jeweiligen Kontext einer Schule gut oder weniger gut geeignet sein. An der iDSB haben wir in einem einjährigen Prozess Mitarbeiter:innen, Eltern und Schüler:innen über die drei Schultypen informiert und in Befragungen und Diskussionen einen Konsens darüber erzielt, welcher Ansatz uns hilft, unseren Unterricht besser zu gestalten: die Mainstream-Schule mit ihren vier Säulen Transparenz, horizontale und vertikale Zusammenarbeit, Differenzierung und datenbasierte Entscheidungen.

Eine der vier Grundsäulen, auf denen die Vision Ihrer Schule ruht, ist die vertikale und horizontale Zusammenarbeit, also die Vernetzung über Fächergrenzen und Jahrgangsstufen hinweg. Inwiefern helfen an dieser Stelle digitale Prozesse?

 Zunächst einmal erleichtern sie die Organisation einer solchen Vernetzung. An unserer Schule konnten sich in einem einfachen Google Spreadsheet alle unterrichtenden Kolleg:innen der Unterstufe einen Überblick darüber verschaffen, wer wann welches Thema in welchem Zeitraum behandelt. Daraus ergaben sich viele Ideen für Verbindungen einzelner Themen oder Fächer. In der Oberstufe nutzen die Schüler:innen Teams und OneNote, um das gesamte Wissen der Qualifikationsphase, inklusive Übungs- und Differenzierungsmaterial, zu sammeln und übersichtlich jederzeit zur Verfügung zu haben. Das erleichtert den Rückgriff auf vorangegangene Einheiten und das Schaffen von Querverbindungen. Allgemein erleichtern uns digitale Tools die Teamarbeit, sei es durch Videokonferenzen oder die Chat-Funktion, etwa im virtuellen Lehrerzimmer, das wir auch nach Corona beibehalten haben. Diese Form der Kollaboration und Kommunikation soll in den nächsten Jahren noch weiter ausgebaut werden.

Eine weitere Grundsäule Ihrer Schule sind datengestützte Entscheidungen. Dabei geht es neben der Dokumentation von Leistungsständen auch um die Beteiligung an Schulentwicklungsprozessen. Welche Personengruppen werden auf welche Weise beteiligt?

Wir an der iDSB versuchen, möglichst alle Mitglieder der Schulgemeinschaft in Schulentwicklungsprozesse miteinzubeziehen, etwa durch regelmäßige Evaluationen und Feedbackgespräche. In der Steuergruppe, in der neben Lehrkräften auch Vertreter:innen der Eltern- und der Schülerschaft sowie ein Mitglied des Schulträgers mitarbeiten, werden aktuelle Schulentwicklungsvorhaben angesprochen und diskutiert; die Protokolle sind offen einsehbar. 

Alle Lehrkräfte der Oberschule sind zudem Mitglied eines selbst gewählten Projektteams, das sich mit Schulentwicklungsaufgaben beschäftigt, etwa der Digitalisierung im naturwissenschaftlichen Bereich oder im Fremdsprachenunterricht, dem On- und Offboardingprozess von Lehrkräften oder der Stärkung von Deutsch im Fachunterricht. Dafür erhalten die Ortslehrkräfte in ihrem Deputat 0,5 Anrechnungsstunden. Unser nächstes Ziel ist, die Präsentation der Zwischenergebnisse der bestehenden Projektgruppen in Form eines Marktplatzes zu organisieren, der auch Eltern und Schüler:innen offensteht, sodass der gesamten Schulgemeinschaft bewusst ist, woran gerade gearbeitet wird und ein Raum für gezieltes und konstruktives Feedback entsteht. 

Die Expertise der Elternschaft und die Perspektive der Schüler:innen binden wir auch in unserem neu aufgestellten IT Steering Committee ein: In diesem Forum können sich die Koordinatoren für digitale Unterrichtsentwicklung mit weiteren interessierten Lehrkräften darüber austauschen, auf welche Weise Tablets didaktisch sinnvoll im Unterricht eingesetzt werden können.

Zentral ist zudem die regelmäßige Kommunikation mit der Schüler:innenvertretung und dem Elternbeirat in Form von wöchentlichen bzw. zweiwöchentlichen Jours fixes, bei denen aktuelle Anliegen immer direkt besprochen werden können.

Inwiefern wurden Sie durch den Experimentierraum angeregt, die Rahmenbedingungen entlang der Bildungskette neu zu denken bzw. wie können Rahmenbedingungen verändert oder flexibilisiert werden?

Der Austausch mit anderen Akteur:innen hat mich darin bestärkt, unseren bereits bestehenden Ansatz noch motivierter und zielgerichteter anzugehen. Das heißt konkret für die iDSB: möglichst viele Mitglieder der Schulgemeinschaft von unserer Vision einer Mainstream-Schule zu überzeugen und ihnen die nötigen Ressourcen und Methoden an die Hand zu geben. Außerdem die Schritte zur Umsetzung dieser Vision eigenverantwortlich, aber immer im Austausch mit anderen zu gehen. 

Der Blick von außen, von einer Auslandsschule auf das innerdeutsche Bildungssystem zeigt: Wir als Privatschule haben bereits die Flexibilität, die an den meisten Schulen im Inland erst entstehen muss und die dort von den meisten Schulleitungen auch gewünscht wird – sei es bei der Digitalisierung, der Organisation von Teamarbeit oder der Auswahl und Fortbildung von Personal. Aber unser Transformationsprozess der letzten Jahre zeigt auch: Ohne eine Aufstockung der Ressourcen, etwa durch die Entlastung von Lehrkräften, die Investition in IT-Infrastruktur oder multiprofessionelle Teams, wird es nicht gehen. Gute Schulentwicklung braucht Zeit, Geld und kluge Köpfe.

Welche konkreten Anregungen haben Sie durch den Austausch im Experimentierraum des Netzwerks Bildung Digital mitgenommen?

Nicht nur das Lernen der Schüler:innen und Schüler, auch unser Lernen als Lehrkräfte muss sich verändern. Es muss vernetzter, differenzierter und praxisbezogener werden. Statt einer Präsenz-Fortbildung zu einem festgelegten Thema an einem bestimmten Datum ermöglicht der Experimentierraum das Lernen an Best-Practice-Beispielen über Schul- und Ländergrenzen hinweg, den Austausch auf Basis verschiedener Perspektiven innerhalb des Bildungssystems und die Anknüpfung an Lernorte vor und nach der Schule (Stichwort: horizontale und vertikale Kooperation). Gleichzeitig lässt das Format jedem Teilnehmenden die Freiheit, eigene Impulse einzubringen und die Umsetzung von Ideen selbstverantwortlich zu steuern. Eine solche Organisationsform erscheint mir dadurch wesentlich zielführender als eine herkömmliche Weiterbildungsmaßnahme. Ich freue mich jetzt schon auf die Fortsetzung!

Vielen Dank für das Interview!

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ZUR PERSON

Nicole Bordelais, ausgebildet in Nordrhein-Westfalen, arbeitet nach Stationen in Peking und Köln seit 2016 als Auslandsdienstlehrkraft für die Fächer Deutsch, Geschichte, Französisch und Medienkunde an der internationalen Deutschen Schule Brüssel. Seit 2018 leitet sie dort als Beauftragte für das Pädagogische Qualitätsmanagement (PQM) die Steuergruppe. Seit 2021 hat sie zusätzlich die stellvertretende Schulleitung übernommen und ist dort u.a. für die Schulentwicklung zuständig. In ihrer Tätigkeit als Referentin für die ZfA (Zentralstelle für das Auslandsschulwesen) bildet sie regelmäßig Auslandsdienstlehrkräfte in den Bereichen Digitalisierung und PQM fort.