Interview

„Wir müssen mehr Wert auf unsere Wirkung im digitalen Raum legen“

Während Lehrende ihren analogen Unterricht im Idealfall in ein möglichst lernförderndes Setting einbinden, sind viele überfordert, wenn es darum geht, dies auch im digitalen Raum zu gewährleisten. Aber auch die Lernenden sollten sich bewusst sein, wie sie im digitalen Raum wirken und wie sie mehr Verantwortung für ihren Auftritt übernehmen können. Zu diesem Thema suchte Heike Kundisch, Forscherin an der Universität Paderborn, den Austausch im zweiten Experimentierraum „Institutionen entlang der Bildungskette stärken“.

von Klaus Lüber mit Heike Kundisch 28.02.2023

Wie präsentieren wir uns eigentlich in digitalen Lernsettings? Und wie gestalten wir dann unsere eigene Lernumgebung? Diese Fragen beschäftigen die Forscherin Heike Kundisch schon seit einiger Zeit. Nicht nur, weil sie im Rahmen eines BMBF-Projekts an der Universität Paderborn zur Rolle der Selbstwirksamkeit in der Kompetenzermittlung bei benachteiligten Jugendlichen forscht. Sondern auch aus den Erfahrungen heraus, die sie selbst als Lehrende während der Lockdowns machte. Dabei geht es ihr nicht nur darum, Möglichkeiten zu finden, lernfördernde Settings vom analogen in den digitalen Raum zu transferieren. Sie will für einen Aspekt sensibilisieren, der vielen Lehrenden noch gar nicht bewusst ist: dass nämlich der eigene digitale Auftritt, ganz anders als die physische Teilnahme an einer Präsenzveranstaltung, einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Im analogen Raum herrsche die Haltung, ich nehme einfach Teil, um das Setting kümmern sich die anderen, so Kundisch. Bei einem Videomeeting sei das anders. Da mache es sehr wohl einen Unterschied, in welchem Kontext man die Teilnehmenden wahrnehme. Und vor allem, wie die Lernenden die eigene Lernatmosphäre gestalten.

Frau Kundisch, eine digitale Lehrveranstaltung ist natürlich eine ganz andere Erfahrung als eine analoge. Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit Praktiken der Selbstinszenierung. Wie unterscheiden sich digitale und analoge Settings in dieser Hinsicht?

In unserem Projekt SeiP richten wir unsere Aufmerksamkeit weniger auf das Setting selbst, sondern auf jeden Jugendlichen ganz individuell. Es geht schließlich darum, wie sich der oder die Jugendliche selbst gut ausdrücken kann. Also, was ist seine Komfortzone? Diese geben nicht wir oder die Bildungsakteure der Schulen vor, sondern wir schaffen bewusst eine große Offenheit. Ist ein selbstgezeichneter Comic eine Ausdrucksform? Ist es ein Video, mit dem er uns an seinen Interessen teilhaben lässt? Eine Fotoreportage, eine Collage? Es gibt hier wirklich keine Grenzen. Die Ressourcen und Stärken der jeweiligen Jugendlichen stehen im Fokus! Erst in einem nächsten Schritt geht es dann um die Ausdrucksform, um die „Selbstinszenierung“. Hier sehe ich auch über das Projekt hinaus einen wichtigen Punkt. Man sollte sich immer zuerst fragen, was man transportieren und welche Ressourcen ich berücksichtigen möchte. Erst dann sollte man sich entscheiden, ob dabei analoge oder digitale Formate bessere Dienste leisten.

In diesem Kontext ist es interessant zu untersuchen, welche Möglichkeiten Lehrende haben, lernfördernde Settings, die sehr gut im analogen Raum funktionieren, auch in den digitalen Raum zu transferieren. Mit dieser Fragestellung sind Sie auch in den Experimentierraum gegangen. Welche neuen Impulse haben Sie aus dem Austausch mitgenommen?

Zunächst einmal fand ich es spannend, dass die Eigenverantwortung jedes einzelnen Lernenden für seine Lernatmosphäre wenig im Fokus steht. Die Verantwortung bleibt hier zunächst bei den Lehrenden – zumindest vordergründig. Diese können zwar von ihren Schreibtischen aus verschiedenen Techniken wie etwa eine Dokumentenkamera einsetzen, unterschiedliche Methoden und Tools anwenden (Mentimeter, Kollaborationsplattformen, Kleingruppenräume) und auf diese Weise schon einiges dafür tun, die Teilnehmenden zu aktivieren und zu beteiligen. Sie haben aber keinen Einfluss darauf, in welchem Setting die Teilnehmenden vor ihren Bildschirmen sitzen, wie sie ihre zeitliche und räumliche Umgebung organisieren und gestalten, mit welcher Haltung sie in mein Seminar kommen. Dieses Thema begegnet mir immer wieder und ist keineswegs trivial. Es ist nämlich tatsächlich eine grundlegende Frage, die bereits in der Schule – oder früher – eine Rolle spielt: Was brauche ich, damit ich gut lernen kann? Jetzt gilt es, hier die Verantwortung zu erkennen, die ich selbst für mich habe und was ich auch selbst bewirken kann für mein individuelles lernförderliches Setting.

Ist den Lernenden der Unterschied zwischen einem analogen und einem digitalen Auftritt bewusst? 

Hier würde ich direkt sagen: Nein, ganz häufig nicht. Zumindest nicht so, dass mit bedacht wird, welche Wirkung ich in diesem Moment als im digitalen Raum auf die anderen Teilnehmenden habe. Hier beobachte ich immer wieder, dass auf die Wirkung im analogen Raum mehr Wert gelegt wird. Wobei natürlich diskutiert werden kann, was man individuell eigentlich bewirken möchte und wo der eigene Fokus liegt. Außerdem haben wir natürlich im analogen Raum viel mehr Erfahrung mit unserer Wirkung und sind geübter darin, die Signale unserer Mitmenschen zu deuten. Diese Signale sind im digitalen Raum reduziert. Und dies stellt eine große Herausforderung dar. Wir wissen beispielsweise auch nicht, was bei meinem digitalen Gegenüber sonst noch passiert in seinem analogen Raum und sein Verhalten gegebenenfalls beeinflusst. Dies macht es in digitalen Settings oft schwer, sein Verhalten zu deuten.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von Digital Selfcare. Was genau meinen Sie damit?

Es geht zum einen um meine eigene Sensibilisierung dafür, wie ich mein digitales Leben gestalte und darum, wie ich dieses digitale Leben dann auch tatsächlich anpasse. Und zwar mit dem Ziel, gut zu lernen und zu arbeiten und dabei auch das analoge Leben noch entsprechend zu berücksichtigen. Dazu gehören dann ja eigentlich ganz einfache Dinge wie genügend Pausen zwischen digitalen Meetings, gerade wenn sie länger andauern, die Gestaltung meines Arbeitsplatzes, die Art und Weise, wie wir dann in digitalen Räumen miteinander kommunizieren und dort ein bewusstes Miteinander herstellen. Kurz: Ich muss auch in der Verknüpfung von analogem und digitalem Raum meine Wirksamkeit und Gestaltungsmöglichkeit behalten.

Welche Anregungen haben Sie durch den Austausch im Experimentierraum des Netzwerk Bildung Digital bekommen?

Ich nehme vor allem die Anregung mit, dass dies auch für andere und weiterhin ein wichtiges Thema ist und dass ein Austausch über den eigenen Arbeitsbereich hinaus immer wieder viele Impulse bietet. Daher finde ich die Idee des Formats großartig und würde mich über weitere solche Gelegenheiten freuen. Wir brauchen mehr Experimentierräume!

Vielen Dank für das Interview!

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ZUR PERSON

Heike Kundisch entwickelt am Department Wirtschaftspädagogik der Universität Paderborn bedarfsorientierte Weiterbildungsformate für Bildungsakteure, insbesondere für die mittlere Führungsebene. Sie forscht unter anderem zu Selbstinszenierungspraktiken und wie diese einen Zugang bieten können zur Aufdeckung und Entwicklung von Kompetenzen benachteiligter Jugendlicher im inklusiven Übergang Schule-Beruf. Sie arbeitet außerdem als StärkenCoach und Trainerin.